Rosenwassertod
1. Ordnung schaffen
Georg war Zeit seines Lebens ein gewissenhafter Beamter gewesen und so wollte er es auch jetzt wieder handhaben, jetzt, da seine letzte Ordnung anstand.
Er wusste genau, dass er eine Sterbeversicherung abgeschlossen hatte, das bestätigten ihm nicht nur die jährlichen Abbuchungen, sondern auch seine vor ihm liegende Excel-Tabelle, in der alle Daueraufträge und sonstigen wiederkehrenden Geldvorgänge fein säuberlich vermerkt waren. Aber wo er die Sterbepolice versteckt hatte, in seinem, so vermeintlich klar strukturierten Ablagesystem, blieb ihm im Moment noch verschwiegen, ausgerechnet da versagte jetzt sein normalerweise so gut ausgeprägtes Erinnerungsvermögen. Also musste er suchen und das ärgerte ihn, den übergenauen, so peniblen, Ordnungs-menschen mächtig. Dabei hatte er doch Rubriken angelegt, in seinen diversen Ordnern, aber weder unter 'Tod', noch unter 'Versicherungen' hatte er etwas gefunden, erst als er mehrere Ordner vollständig durchgeblättert hatte, fand er die Police unter dem Begriff 'Urkunden'. Sein Beamtensinn schlug direkt Alarm und fragte ihn, warum er diese seltsame Eingliederung gewählt hatte, aber es kam ihm keine Erklärung in den Sinn, irgendwie hatte er wohl damals gedacht, das wäre klar und verständlich. Aber das war es jetzt eben gerade nicht und das ärgerte ihn, denn warum hatte er damals, nach Annas Tod, vor jetzt knapp sechs Jahren,.. er schaute auf den Kalender,.. um genau zu sein, vor fünf Jahren, vier Monaten, sechs Tagen und.., ein Blick auf die Uhr,... sieben Stunden, 26 Minuten und unbekanntem Sekundenstand, die Police seiner frisch verstorbenen Frau, direkt, ohne langes Suchen, aus der Ablage 'Tod' wie selbstverständlich gefunden? Und jetzt seine Police nicht, das wurmte ihn. Hatte er umsortiert? Aber warum und wieso? Er und Anna hatten sich doch damals beide darauf verständigt, gerade um die Sterbepolicen direkt griffbereit zu haben, dafür extra diese Rubrik 'Tod' mit den Sterbeurkunden anzulegen, daran konnte er sich noch sehr gut erinnern, denn dement war er schließlich noch nicht, trotz seiner 79 Lebensjahre. Natürlich war das jetzt kein Beinbruch, er hatte sie ja gefunden, aber der Beamte ihn ihm ließ nicht locker, suchte nach einer, möglichst plausiblen, Erklärung, denn, dass er das aus Jux und Tollerei umsortiert hatte, konnte nicht sein, erst recht nicht in diesem Fall. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern und schließlich kam die Erleuchtung: Hatte er nicht, als seine Frau gestorben und daher nur noch seine Urkunde wichtig war, beschlossen die Akte 'Tod' zu schließen und seine Police in der Rubrik 'Urkunden' unterzubringen? Genau, so war es gewesen! Und was war der Grund? Zum einen, dass bei seinem Ableben die Nachkommenschaft wohl besser nach der neuen Ordnung fündig werden würde und zum anderen fand er die Rubrik 'Tod' mittlerweile als überholt und nicht passend. Was sollten sich seine Nachkommen darunter denn auch vorstellen. Bestimmt nicht das, was die wahre Bedeutung war und die sollte auch nicht nach außen dringen und deshalb hatte er auch diese anderen Dokumente, die er unter 'Tod' eingeordnet hatte, nach Annas so unverhofftem Ableben, je nach Wichtigkeit, unter 'Sonstiges' und 'Urkunden' verlegt oder entsorgt, entweder geschreddert oder verbrannt. Er hatte wohl wirklich einfach nur vergessen dann den leeren 'Tod' zu vernichten. Er entnahm die Sterbeversicherung und legte sie auf den dafür vorgesehenen Platz, auf dem großen Wohnzimmeresstisch. Den hatte er abgeräumt, schön dekoriert und Plätze für die verschiedenen Papiere angelegt, die für eine gewisse Nachtodesordnung sorgen sollten. Er fand es der Situation angemessen, wenn sie direkt seinen Pensionsbescheid, seine diversen Vereinsmitgliedsausweise und vor allem seine Adressenaufstellung, der zu benachrichtigenden Personen, in Papierform vorfinden würden. Das war vielleicht ein bisschen altbacken, er wusste ja, wie es zuging in dieser Welt, die immer mehr elektronisch kommunizierte und nur Wert auf das Gespeicherte legte, aber das war ihm mittlerweile ziemlich egal, für ihn jedenfalls kam nur eine Übermittlung seiner Regelungs-papiere 'schwarz auf weiß' in Frage. Natürlich hatte er auch alle noch ausstehenden Termine, bis auf einen, denn der war problematisch, abgesagt. Bei diesem, für ihn nicht absagbaren Termin, lag das Problem darin, dass den eigentlich sein Sohn Robert vereinbart hatte und er deshalb, wenn er den gecancelt hätte, in Gefahr gelaufen wäre, wieder eine endlose Recht-fertigungsdebatte führen zu müssen und das auch noch über Leitung in die USA. Und das wollte er absolut nicht. Deshalb machte er es sich einfach und betrachtete diesen Termin als alleinige Angelegenheit seines Sohnes, der war der Besteller und er der Kunde, so sah er das. Wobei das natürlich nicht stimmte, das war eine reine von ihm an den Haaren herbeigezogene Selbsttäuschung, um sich vor den Vorwürfen seines Sohnes zu schützen, denn er war Patient und der von seinem Sohn beauf-tragte Professor für seine Prostataoperation eine medizinische Größe erster Güte. Vielleicht hätte er diesen Termin sogar wahrgenommen, aber die Ereignisse der letzten, erst so kurz zurückliegenden Zeit, hatten ihn umgestimmt, ihn zu der Über-zeugung gebracht, dass es auch für ihn an der Zeit war zu gehen, bewusst und selbstbestimmt, bevor es so wie bei seinem besten und letzten Freund Erich enden würde, der vor zwei Wochen das zeitliche gesegnet hatte, auch so alt wie er und der auch Krebs hatte. Aber das war nicht Erichs Todesursache, wobei sein Sterben sich grausamerweise so ähnlich wie bei Krebs entwickelt hatte, so Schlag auf Schlag, im wörtlichen Sinne. Und der Letzte hatte ihn dann endgültig umgehauen. „Gott sei Dank“, stöhnten die Wenigen, übrig gebliebenen, ihm näher stehenden, Personen, „denn das war doch kein Leben mehr“. Sein endloses Leiden mit anzusehen, hatte Georg viel Kraft gekostet. Die Besuche machten ihn total fertig und ließen bei ihm immer wieder die Frage aufkommen, wie und wann er wohl sterben würde, die Zeit war ja durchaus da. Und letztlich war, auch durch diese ständige, innerliche, Angst erzeugende, Aufwühlerei, sein Entschluss gereift, es jetzt selbst in die Hand zu nehmen, denn so wollte er nicht enden, auf gar keinen Fall. Befördernd hinzu kam dann noch das Ergebnis seiner Umgebungsbilanz, die entsprechend negativ ausfiel und schon brauchte er gar nicht mehr lange zu überlegen. Was sollte er noch hier, auf dieser für ihn so wertlos gewordenen Welt? Von seinen Freundinnen und Freunden war, außer Sabine, niemand mehr übrig und die anderen Betagten, die noch lebten, waren für ihn mehr oder weniger Arschlöcher oder Arschlöcherinnen, jedenfalls nichts, was ihn am Leben hielt.
Einzig der Rest von Familie, nämlich sein Sohn, dessen Existenz und der damit verbundenen familiären Bindung, hätte ihn theoretisch noch bewegen können, es sich doch noch einmal zu überlegen. Aber das blieb wirklich rein theoretisch, denn sein Sohn war erstens weit weg, in den Staaten, und zweitens, so in seinem Irrglauben gefangen, dass Georg bei ihren Treffen mehr Leid, als Freude, erfahren hatte und das war wahrlich kein Grund es sich anders zu überlegen. Er sah jedenfalls keinerlei Perspektive für ein zukünftiges, gedeihliches, Zusammenleben in einer für ihn wie auch immer gearteten Altersendzeit. Vor allem die ständigen, anstrengenden Diskussionen mit seinem Sohn, seiner amerikanischen Frau und eigentlich dieser ganzen ange-heirateten Familie, alles Hardcore-Evangelikale, alle bekloppt, aus seiner Sicht, aber halt Familie, über die christliche Lehre, nervten ihn ungemein. Mein Gott, was hatten die aber auch für abstruse Vorstellungen, am liebsten hätte er der Familie gekündigt, aber da war ja sein Sohn, dem er sich verpflichtet fühlte und deshalb machte er gute Miene zu bösem Spiel, zumindest meistens, denn es fiel ihm ungemein schwer, mit anzusehen und am eigenen Leibe zu erfahren oder besser am eigenen Geiste, wie diese amerikanische Sekte argumentierte und agierte. Von der von ihm bewusst süffisant, in böswilliger Tonlage, vorgetragenen Sekten-Titulierung ließ er sich partout nicht abbringen, auch nicht, als er sich wieder einmal, bei seinem letzten Besuch, recht drastisch und abfällig und zudem auch noch recht lautstark, dementsprechend geäußert hatte und deshalb fast schon seinen Heimflug hätte früher antreten müssen. Aber das war ihm da egal, ihr Auftreten war für ihn eben unerträglich nervig gewesen, umso mehr, als er bei diesem Besuch endgültig zu der bitteren Erkenntnis gelangt war, dass sein Sohn verloren war, leider, aber selbst so gewollt und von ihm nur sehr schmerzhaft verkraftbar...
Vor seinem Abgang hatte sich Georg vorgenommen noch ein paar Rechnungen zu begleichen, sich der Stachel seiner Verfehlungen zu entledigen. Er wollte unbedingt noch:
2. Frieden schaffen
Und deshalb galt es jetzt den nächsten Schritt der irdischen Loslösung in Angriff zu nehmen. Und auch das würde kein Einfacher sein, aber er musste getan werden, damit er ruhigen Gewissens gehen konnte. Sein geplanter Abgang zwang ihn jetzt endlich das zu tun, wovor er sich schon die ganze Zeit gedrückt hatte und ihm mächtig auf der Seele brannte, nämlich: Abbitte leisten, um Frieden zu schaffen!
Georg war, wie ihn seine grünen Nachbarn so gerne bezeich-neten, lange Zeit eine Umweltsau gewesen. Er sah das, bis zu seiner Erweckung, natürlich ganz anders, Natur zu Natur, war da seine Devise, und deshalb verbrannte er, was man verbrennen konnte. Und da nicht immer alles, was nach Holz aussah, auch Holz war, wobei das inwendig verarbeitete, im Holz einge-schlossene und daher nicht sichtbare, meist furnierte, Nichtholz, als solches, zu seiner selbstbetrügerischen Entschuldigung, unmöglich zu erkennen war, kam all dies, von ihm als Vollholz deklariert, in den Ofen. Allerdings nicht in den Kaminofen seines Hauses, sondern in den kleinen, offenen, in seinem Garten-häuschen, was eigentlich mehr die Bezeichnung Hütte verdient hätte. Zu seiner Schande musste er aber gestehen, dass er da auch Teile verbrannte, die man wirklich nicht als Holz, Pappe oder Papier, identifizieren konnte, aber nach seiner großzügigen Auslegung handelte es sich dabei nur um harmlosen, brennbaren Unrat, wie Gartenabfälle, welkes Laub und leider auch manche Plastiktüte, die sich, natürlich völlig unabsichtlich, in den Ofen verirrt hatte. Das sorgte dann naturgemäß es öfteren für mächtigen Qualm und Gestank. Aber zum einen bekam Georg von den Gaswolken nichts oder nur ganz wenig mit, nicht weil er nicht mehr gut riechen konnte, sondern weil sein Feuerhäuschen sehr günstig für ihn und sehr ungünstig für die grünen Nachbarspinner stand und zum anderen hatte er sich auch noch die, von seinem Urgroßvater überlieferte, Devise angeeignet, nämlich: Was uns nicht tötet macht uns nur noch härter. Man kann nicht unbedingt sagen, dass bei diesen Verbrennungs-aktionen die vorhersehbare, nachbarschaftliche Auseinander-setzung letztlich eskalierte, aber besonders bei Inversions-wetterlagen legte sich ein schwerer, beißender, nach Gummi riechender, Rauchnebel über die Gegend und das ließ natürlich die am stärksten Betroffenen auf dem Tapet, sprich am Nachbarzaun, zu wilden Unmutsbekundungen, erscheinen. Als das nichts half, alle Proteste im Sande verliefen, es Georg, uneinsichtig wie er nun einmal war, weiter qualmen ließ, sahen sich die von ihm als Körnerfresser titulierten Nachbarn gezwungen Konsequenzen zu ziehen und das Ordnungsamt auf den Plan zu rufen. Beim ersten Auftritt der Amtsvertreter, konnte Georg die Sache noch mit versprochener Einsicht und gelobter Besserungsabsicht bereinigen, aber beim zweiten Mal, war dann eine Geldstrafe fällig, was ihn natürlich veranlasste, jetzt erst recht zurückzufeuern, im wahrsten Sinne des Wortes, aber diesmal eben intelligenter. So ein schönes Feuer in den Nachmittags- oder Abendstunden war doch auch recht nett und die Leute vom Amt sicher außer Dienst. So praktizierte er es dann auch. Die Überwacher vom Amt erschienen dann zwar am nächsten Tag oder etwas später, konnten ihm aber nichts mehr beweisen, es stand Aussage gegen Aussage und der Ofen war kalt, wenn auch manchmal mit feuchter Nachhilfe. Es wurde ihm dann aber doch zu blöd und, um allem aus dem Wege zu gehen, verbrannte er nur noch in den sehr frühen Morgenstunden, nach dem Motto: Morgenstund hat Brand im Mund. Er stellte sich den Wecker für drei Uhr nachts und startete dann seine Vernichtungsaktionen. Richtig zielführend war das aber auch nicht, denn Gregor, der drei Häuser weiter wohnte, sprach ihn an.
„Georg, mich geht dein Zoff mit deinen Nachbarn ja nichts an, aber selbst wenn du deinem Hobby in der Frühe nachgehst kannst du dich nicht sicher fühlen. Ich wollte dir das nur mal sagen, als Imkerkollege.“
„Wie meinst du das?“
„Die,“ und dann zeigte Gregor Richtung Grünenhaus, „haben das schon längst mitbekommen. Das hat denen nämlich der Russe, von da hinten, gesteckt,“ Gregor deutete dabei Richtung Straßenende. „Der hat nämlich, so wie ich, Schichtarbeit, und da bekommt der so einiges mit, von dem, was die Leute meinen nur nachts treiben zu können, du verstehst was ich meine.“
„Hm.“ War alles, was Georg von sich gab.
„Und dann noch ein Tip: Die Alternativen haben sich eine Kamera, die auch nachts funktioniert, gekauft, meine Frau stand im Geschäft hinter denen und hat das mitgekriegt.“
„Danke für die Info, Gregor, feiner Zug von dir.“
„Keine Ursache, man hilft doch gerne.“
Sie gingen auseinander und Georg danach in sich.
„Also gut, ihr habt gewonnen,“ gab er schließlich, für sich, grimmig und ziemlich zerknirscht, klein bei. Aber das nur still und leise, indem er die Ofenfütterung einstellte, persönlich nach außen hin zeigen kam nicht in Frage, da spielte er den Beleidigten und vermied weiter jegliche Konversation. …...
Und so lebte man vor sich hin, Zaun an Zaun, bis es Georg langsam dämmerte, was er angerichtet hatte und insgeheim fühlte er sich deshalb zusehends schuldiger. Wahrscheinlich war mit der Zunahme der diversen Medienberichte über Umweltgifte auch bei ihm der Groschen gefallen. Und dazu kam etwas, was er auch immer seinem Sohn gepredigt hatte, nämlich, immer offen zu bleiben, immer das eigene Tun zu reflektieren, zu hinterfragen und nie verbohrt zu sein. Ausgerechnet er predigte dies, er, der lange Zeit, genau das Gegenteil repräsentierte. Aber steter Tropfen höhlt den Stein, er hatte gelernt und sich mit der Zeit gewandelt, konnte und wollte es bisher nur nicht zugeben, seine Sturheit vernagelte ihm noch das Tor zu einem offenen Eingeständnis. Aber jetzt, jetzt war er bereit und daher hatte er sich vorgenommen, die Konsequenzen zu ziehen, erst recht, weil er es ja bald nicht mehr tun konnte, da ja seine selbst gestellte Uhr tickte. Der Ablaufzeiger war da zwar noch einige Zentimeter vom Ziel entfernt, schritt aber warnend voran.......
Als es dann soweit war galt es:
3. Abschied zu nehmen – a sentimental journey
Gehen ja, aber bevor er sein Ziel in Angriff nehmen konnte, hatte er noch zwei Stationen zu bewältigen und die würden ihm auch noch einiges abverlangen. Das war ihm klar, er hoffte nur, dass es ihn nicht so hart treffen möge, nicht so sehr, dass er womöglich seinen Plan in Frage stellen oder sogar aufgeben würde. Die Gefahr bestand durchaus, denn die Einflüsterungen seiner Seele, hervorgerufen durch die Gespräche mit seinen Liebsten, könnten ihn durchaus wieder vom Weg abbringen. Etwas mulmig war ihm daher schon, als er den Gang zum Friedhof antrat. Vorher hatte er sich gut angezogen und nochmals sein Outfit in Ordnung gebracht, sich so versucht zu präsentieren wie es Anna immer gefallen hatte.
„Hallo Anna, na, ist das heute nicht ein schöner Tag, so einer wie du ihn immer geliebt hast? Spätsommer war doch immer deine Zeit. Jetzt würdest du schon in den Startlöchern sitzen und mich drängen, mich fragen, wo ich denn bleiben würde? Warum ich denn immer solange an meinem Rucksack rum fummeln müsste, wie lange ich denn noch packen und dann wieder umpacken, alles nochmal überprüfen und die Gurte einstellen wollte. Ja Anna, du hattest immer gut reden, du hast nur die Schuhe geholt und dann warst du startklar, alles andere hast du mir überlassen, aber dann gemotzt, wenn wir etwas vergessen oder nicht genug Wasser dabei hatten, wobei Wasser konntest du ja eigentlich eh nie genug dabei haben und das vorwiegend in 1,5-Liter-Behältern. Und das alles konnte ich schleppen, du bist nur voraus in deinem Stechschritt und hast dich an der Natur erfreut, hast gesungen, Blumen gepflückt oder dich, nach Lust und Laune, in's Gras gelegt, um die noch recht starken Frühherbstsonnenstrahlen zu genießen. Aber auch ich habe diese Unterbrechungen geliebt, wenn ich mich zu dir auf die Wiese legen, mich an dich kuscheln, dich küssen und so schön faul mit dir rumliegen konnte. Bis uns die ersten Ameisen die Füße verbrannten. Zwar hatten wir immer, sorgfältig prüfend, den Boden abgesucht, aber, obwohl wir uns sicher glaubten, waren doch immer ein paar aufgetaucht. Das haben wir aber meistens erst gemerkt, wenn sie schon ihre Brennsäure über uns ergossen hatten. Dann war direkt Aufspringen und Ortswechsel angesagt und meistens begann es dort wieder von vorn. Um so schöner war es dann, wenn wir endlich einen Platz gefunden hatten, wo wir von den Ameisen unbehelligt liegen bleiben konnten, da waren dann zwar irgendwann die vielen kleinen Käfer aufgetaucht, die um uns herum die Grashalme erklommen, aber das waren willkommene Zaungäste, die haben uns nicht gestört, auch, wenn sie über uns gekrabbelt sind oder wie die Grashüpfer, die ihre Turnübungen, über, auf und neben uns, gemacht haben. Auch da bist du dann des öfteren, aber da aus reinem Übermut, auf- und herumgesprungen, wie, wenn du es ihnen nachmachen wolltest. Und manchmal, wenn dich der Affen gebissen hatte, bist du lachend losgerannt und hast mir belustigt zugerufen: 'Fang mich doch, fang mich doch, du kriegst mich nicht, du lahme Ente'. Und dabei hast du mir auch noch neckisch den Finger gemacht und provozierend 'ätsch, ätsch,' gerufen. Ich habe mich natürlich nicht lange foppen lassen und bin hinter dir her, meistens barfuß, wie du. Im Frühling, über die grünen, nassen Wiesen, ging das ganz gut, das war ein tolles Gefühl, da habe ich dich auch lange laufen lassen, aber im Herbst, so wie jetzt, eher nicht so, da waren mir die Stoppelfelder doch zu stachelig, das hat manchmal richtig weh getan. Aber dich hat das nicht gestört, du hast mich dann nur scherzhaft als 'wehleidiges Weichei' tituliert. Was haben wir da gelacht und gefeixt und uns danach, nach unserer kindlichen Wildfangerei, ich im Sitzen, du im Liegen, deinen Kopf in meiner Seite, einen Grashalm im Mund und dabei in die Sonne blinzelnd, wieder erholt.
Ach Anna, das war so schön, mit dir und dafür bin ich dir so dankbar. Und weißt du noch, wie sich dieser Falter, ich weiß den Namen nicht mehr, du hast sie ja alle gekannt, irgendetwas mit der Seefahrt, Kapitän oder so, hat der geheißen, wie der sich auf deine Fußspitze gesetzt und ausgeruht, dabei mit den Flügeln Luft gepumpt, hat und ich zu dir sagte: Siehst du, dem geht es genau so wie mir, der hat sicher auch ein Weibchen, das immer vorne weg rennt und deshalb muss der hier jetzt sitzen und Pause machen, sein Liebchen ist sicher schon wieder eine Station weiter. Dann hast du verschmitzt gelächelt und mir mit einem: 'Och, du Armer, musst so leiden', scheinheilig bedauernd über den Kopf gestrichen.“
Georg wurde es jetzt zusehends schwer um's Herz, er musste eine kurze Pause einlegen, ein paar Tränen einfangen und sich schneuzen, dann konnte er fortfahren.
„Ja die Schmetterlinge, die hatten es dir angetan! Und die Libellen natürlich auch, wie konnte ich die nur vergessen. Da hattest du den Narren an den Blauen gefressen, die waren oft an der kleinen Bacheinbuchtung zu sichten gewesen. Wenn die so über das Wasser geglitten sind und dazu die ganzen Insekten drum herum, die uns keine Ruhe ließen und mit ihrem Stachel verwöhnten, uns die kleinen rötlichen Tupfer beibrachten, die uns durch ihr Jucken noch lange an die schönen Stunden erinnerten, dann warst du in deinem Element, hast du alles Störende einfach ignoriert. Ja, das konntest du, ich nicht, ich musste kratzen und reiben, bis wir uns abends beide einsalbten. Und wie du einmal diesen Fimmel hattest, als du inmitten der Wildblumen diese schöne Pflanze entdeckt hattest und dann unbedingt wissen musstest wie die heißt, was das für eine Art ist. Bis du endlich rausgekriegt hats, dass das der 'braunrote Stendelwurz', eine sehr seltene Orchidee, war, erst dann warst du zufrieden, du Freizeitbotanikerin. Wie oft hast du dir bei deinen Forschungsexpeditionen in das Unterholz Schrammen und Verbrennungen geholt, da waren unsere Sonnenbrände, die wir uns regelmäßig im März aus Unachtsamkeit von der völlig unterschätzten Vorfrühlingssonne eingefangen hatten, jedes Jahr, weil wir zu deppert waren uns einzucremen, harmlos dagegen. Kaum schien der Winter vorbei, hielt uns nichts mehr, raus an die Sonne, an das Licht, in die Wärme, war da die Devise, immer euphorisch, begierig und leider auch nachlässig. Ich mit und besonders auf dem Kopf und du an den Armen. Immer wieder ist uns das passiert, besonders, wenn wir in unseren Liegestühlen eingeschlafen sind, du mit deinem Kreuzworträtsel über der Brust und ich mit den Kopfhörern im Ohr. Und diese Wunden die uns die Sonne geschlagen hatte, waren auch immer ein guter Grund sich näher zu kommen. Wenn du mich fragtest: 'Kannst du mir bitte mal den Rücken einreiben?' habe ich die Frage immer wieder mal gerne als verbale Vorlage angenommen, um dich zu eine Vollmassage zu verführen und habe geantwortet: 'Gerne, aber besser drinnen, auf dem Bett, da kannst du dich frei machen, da verschmiere ich deinen schönen Bikini nicht so.'
'So, so, wegen dem Bikini.' Hast du nur, wohl wissend, aber zurückhaltend, verschmitzt lachend, geantwortet.
'Ja natürlich, wo denkst du hin?' Habe ich dann auf unschuldig gemacht.
'Ach, ich wundere mich nur, dass der dir auf einmal so sehr am Herzen liegt. Aber das ist nicht nötig, den kann ich ja waschen oder zumindest das Oberteil hier ausziehen, es sieht uns ja keiner, deshalb müssen wir nicht rein gehen, nein, deshalb nicht, mein Lieber.' Hast du dann auf desinteressiert gemacht und nur schelmisch zu mir rüber geschaut.
Aber mit der Zeit kannte ich dein neckisches Spielchen und habe nur lakonisch, ebenso Desinteresse heuchelnd, geantwortet: 'Wie du meinst, dann eben nicht, ich hab's ja nur gut gemeint.'
Und dann kam es darauf an, wenn du doch Lust hattest, bist du dann, wie auf der Wiese, aufgesprungen, losgelaufen und hast mir zugerufen: 'Na, dann mal los du müder Krieger, gib alles, reib mich ordentlich ein.'“
Georg legte wieder eine kleine Kunstpause ein, es kam wieder über ihn, er musste jetzt ein paar Tränen mehr freien Lauf lassen. Die Erinnerungen hatten ihn überwältigt und forderten ihren feuchten Tribut, aber es dauerte nicht lange, dann hatte er sich wieder gefangen. Er holte tief Luft, was als Anlauf für sein Schlusswort nötig war und fuhr fort.
„Ja und irgendwann ist dann dabei der kleine Robert entstanden. Und aus dem Kleinen ist dann der Große geworden und wir sind alt geworden und konnten unser Lebensendvorhaben, das des gemeinsamen Ablebens, nicht realisieren, weil uns das Schicksal in die Quere gekommen ist. Jetzt liegst du hier in deiner dunklen Grube, eingesargt und dem Würmerfrass überlassen. Ganz so, wie du es wolltest, wenn es soweit ist, aber viel zu früh und leider ohne mich. Natürlich verzeihe ich dir das Frühe von mir gehen, du konntest ja nichts dafür, aber es wäre so schön gewesen, zusammen hinüber zu wechseln, in das Ungewisse, so wie wir es geplant hatten. Und weil du nicht mehr da bist und ich es nicht mehr dem Zufall überlassen will, muss ich jetzt die Sache für mich selbst in die Hand nehmen und zwar heute, genau heute, an diesem wunderschönen Septembertag, der ist geradezu ideal zum Abtreten. Na ja, zugegeben, ist das kein Zufall, den habe ich so ausgesucht, wenn schon, denn schon. Ich denke, Art und Zeitpunkt wirst du mir zugestehen, aber bei etwas anderem habe ich doch ein schlechtes Gewissen, da weiß ich nicht so recht, ob dir das gefallen wird. Ich habe mich nämlich entschlossen, mich verbrennen und verstreuen zu lassen, auf meinem Lieblingshügel. Du weißt, es war mir schon immer zuwider in so eine Gruft gelegt und dem gefräßigen Erdgetier überlassen zu werden. Außerdem denke ich, dass wir da drüben, insofern es ein Jenseits überhaupt gibt, sowieso nicht leiblich zusammen kommen und deshalb, dessen bin ich gewiss, werden sich unsere Seelen schon finden.“
Georg stockte, er hatte jetzt plötzlich einen Kloß im Hals, der war so groß, dass er sich stark räuspern musste, bevor er fortfahren konnte.
„Und hierfür, für diese kleine Planänderung, die ich dir eben gestanden habe, bitte ich dich jetzt schon, vor unserem Wieder-sehen, um Verständnis und wenn nicht, um Entschuldigung. Ich hoffe aber, du wirst mir deshalb nicht böse sein. Das war's, was mir noch auf dem Herzen lag, jetzt sage ich Erich noch Bescheid und dann dauert es nicht mehr lange, bis wir uns wiedersehen.“
Georg beugte sich weit herab und küsste den Grabstein, dann riss er sich los und eilte zu Erichs Ruhestätte. .........