1. Max
Er sah sie eher zufällig.
Sein Blick fiel aus der Küche in Richtung Hauseingang und da sah er sie kommen. Das mussten sie sein, sie sahen genau so aus wie es Willy beschrieben hatte, richtige Totengräberfiguren, genau so sahen sie aus, die Leute vom Amt.
Das passte wirklich.
Eigentlich hatte er schon eher mit ihrem kommen gerechnet, schließlich hatte er ja um ihren Besuch gebeten, sie also schon erwartet und sich darauf eingestellt, so gut es eben ging. Aber jetzt, wo er sie sah, beschlich ihn schon ein merkwürdiges Gefühl.
Sie kommen also zu zweit, wie bei Willy!
Aber ausgerechnet heute mussten sie kommen, heute wo er sich doch so unwohl fühlte, wo er deshalb auch schon etwas länger liegen geblieben war, vielleicht auch wegen einer unbewussten Vorahnung.
Jetzt war es also soweit!
Als sie klingelten zuckte er unwillkürlich zusammen, das überraschte ihn, er dachte er wäre gefasster. Nein, in dieser Verfassung würde er nicht öffnen, nein nicht heute, nein und abermals nein! Er erklärte sich außer Stande, beim besten Willen, sich heute einzulassen auf ein Gespräch, mit den ‚Verwaltern des Todes‘, so hatte sie Willy benannt, natürlich maßlos übertrieben. Für Willy eine viel zu vornehme Ausdrucksweise, normal hätte man Arschlöcher oder Arschgeigen als Willys bevorzugte Bezeichnung erwarten können. Willy hatte ihn auch schon genauestens informiert wie das Gespräch bei ihm abgelaufen war, obwohl er es eigentlich gar nicht so genau wissen wollte. Aber der hatte nicht locker gelassen und sich aufgedrängt. Wahrscheinlich musste es einfach aus ihm heraus, so wie ein Furz, wenn er quer steckt und einen quält.
Das war Willy-Jargon.
Max wusste, dass er über kurz oder lang nicht um das Gespräch herum kam. Sie würden wiederkommen oder er musste zu ihnen und das war ihm noch unangenehmer, mit dem Gedanken konnte er sich überhaupt nicht anfreunden.
Nein, wenn es schon sein musste, dann bei ihm daheim, mit Heimvorteil sozusagen. Den er jetzt allerdings erst einmal vergab, wenn er sie abwies, das war ihm klar. Aber es ging heute einfach nicht, er fühlte sich zu schlecht, sei's drum, lieber würde er sich eine Ausrede einfallen lassen und es erneut versuchen, diesmal mit einem genauen Termin und keiner vagen Vereinbarung.
Er hielt sich die Ohren zu und wartete.
Durch seine Hörmuscheln drang ein zweites längeres Klingeln. Er fing an zu zittern und setzte sich, wartete eine Weile, stand auf und schaute vorsichtig aus dem Fenster. Da sah er sie gehen, endlich, zwei mittelgroße, schwerfällige, männliche Personen mit Aktenkoffern und Hüten. Nun hatte er also den ersten Schuss vergeben, blöde Sache, aber er war heute einfach nicht gut drauf, er spürte den Blues. Sein Unwohlsein hatte sich schlagartig verstärkt, er fühlte sich matt und niedergeschlagen, dazu hatte er nun Spannungskopfschmerzen und feuchte Hände. Eigentlich gab es keinen Grund sich so zu beunruhigen oder gar zu ängstigen, zumindest was das amtstechnische, das Formelle, betraf. Es ging doch nur um eine Kleinigkeit, einen simplen Antrag. Das Drumherum war es auch nicht, was ihm Kummer machte, es war alleine der Inhalt der Eingabe, eine durchaus ernste Angelegenheit, es ging nicht direkt um sein Leben, aber indirekt doch wieder schon und da konnte er eigentlich keine Rücksicht nehmen, schon gar nicht auf seine Launen und seinen Angstdämon der ihn quälte. Aber er hatte es trotzdem getan, sie trotz aller inneren Antriebsversuche und Gewissensbisse abgewiesen. Vielleicht spielte auch in seinem Unterbewusstsein mit, dass er noch eine Galgen-Frist hatte, ein wesentlicher Unter-schied zu Willys Situation damals. Bei Willy hatte das Amt aktiv werden müssen, er aber hatte noch Zeit, eine Spanne von ca. 8-9 Monaten, gemäß seiner letzten Hochrechnung. Wenn Max keine Lust hatte, wie heute, konnte er sich entziehen, noch folgenlos, aber die Uhr tickte und irgendwann, in nächster Zeit, musste er da durch, ob morgen oder übermorgen. Willy hatte die Hosen runter gelassen und das musste er auch tun, ohne wenn und aber, das war ihm klar. Willy als Dialysepatient im Rollstuhl hatte keine Kohle mehr gehabt, nichts mehr flüssig um seine Behandlung bezahlen zu können. Da musste das Amt aktiv werden, die Situation abklären.
„So, so, sie sind also nicht mehr in der Lage die Dialyse-Behandlung selbst zu zahlen, dann wollen wir mal,“ kamen sie nach einer kurzen Vorstellung ihrer Person, überaus korrekt, mit Ausweisvorlage, zur Sache. Einer hatte gefragt und der andere den Fragebogen ausgefüllt. Willy brauchte nur zu antworten und letztlich als Bestätigung zu unterschreiben. Neben dem ganzen nebensächlichen Kram, den sie sowieso schon wussten, ärztliche Beurteilung, Familienverhältnisse etc., ging es natürlich besonders um Willys finanzielle Lage.
„Wir benötigen entsprechende Nachweise ihrer Vermögens-situation, Kontoauszüge, Rentenbescheid, Deklaration herum-liegender Goldbarren, aller Wertgegenstände, wie auch immer, für die Kostenübernahmeerklärung. Kurz und gut, eine Auf-stellung ihres gesamten Vermögens. Und bitte auch vollständig, nicht geschönt und nicht getrickst, dabei unbedingt auch an sonstige Werte denken, wie teure Uhren, Edelsteine, Immobilien etc.“ Mit einem Augenzwinkern, fügte der Lange noch hinzu: „Und bitte daran denken, keine Übertragungen, Schenkungen usw. an Frau, Kinder, Freunde etc. vornehmen. Wir müssen und werden das natürlich genaustens überprüfen, auch über zurück-liegende Zeiträume. Sie wissen, dass wir die Zahlungen an die Krankenkasse nur übernehmen können, wenn sie uns ihre Vermögenswerte offen legen und überschreiben, vorbehaltlos, damit wir wenigstens einen teilweisen Kostenausgleich vornehmen können. Das ergibt sich aus der letzten Novelle des Krankenversorgungsgesetzes. Wir weisen außerdem daraufhin, dass es nach der aktuellen Ausgabe des überarbeiteten Ethik-Gesetzes möglich ist, Ihnen, auf Antrag, die Möglichkeit der Sterbehilfe anzubieten, die derzeit noch von der Krankenkasse übernommen wird. Die Leistungen diesbezüglich beinhalten eine würdevolle Begleitung durch einen Geistlichen (falls gewünscht), sowie natürlich die ärztliche Beaufsichtigung und Überwachung des Sterbeprozesses. Nach den vorliegenden Krankheitskriterien sind wir gezwungen ihnen dies anzubieten bzw. darauf hinzuweisen. Dies ist in keinster Weise eine Aufforderung diese Leistung in Anspruch zu nehmen, das möchten und müssen wir ausdrücklich klarstellen,“ sagte der etwas kleinere und klopfte dabei Willy verständnisvoll auf die Schulter.
„Henkersmahlzeit!“ schrie Willy und spuckte auf den Boden. „Äh, pfui Deibel, schämt euch!“.
„Wir tun nur unsere Pflicht,“ kam es ziemlich kleinlaut von dem Längeren, „und bitten sie, sich zusammen zu nehmen, sonst wird das nichts, verstehen sie. Ruhig bleiben und sich nicht aufregen“ Er trat vor Willy und sah ihn ernst an.
Der Kleinere fuhr fort: „Sollten sie in eine, nach ärztlichem Ermessen unwürdige Lebenssituation geraten, z.B. Intensiv-station mit lebensungünstiger Perspektive, was bei ihnen als Dialyse-Patient nicht unwahrscheinlich ist,“ die beiden nickten sich zu und grinsten, was Willy sehr irritierte, „muss sowieso von der Möglichkeit der fremdbegleiteten Sterbehilfe Gebrauch gemacht werden. Nochmals, wir tun nur unsere Pflicht und sind, wie bereits erwähnt, angewiesen sie hinreichend zu informieren. Das haben wir hiermit auch getan und bitten sie, uns dies hier auf diesem Formblatt mit ihrer Unterschrift zu bestätigen.“
Willy bestätigte widerwillig mit zittriger Hand, dabei immer noch rätselnd wie er ihr grinsendes Zunicken zu interpretieren hatte. Aber mehr noch blieb die abschließende Bemerkung des Längeren an ihm haften: „Eine schöne Wohnung haben sie, weit-läufig und mit Balkon, da lässt es sich sicher gut leben!“
Das in etwa, war der Besuchsverlauf, jedenfalls hatte es Willy so geschildert, bemüht auch ja kein Detail auszulassen, wobei er sicher den ein oder anderen Wutausbruch seinerseits unter-schlagen hatte. Aber letztlich hatte er soviel Instinkt gehabt es nicht ganz auf die Spitze zu treiben. Es ging schließlich um sein Überleben und da konnte man nicht zimperlich sein.
Bei Max aber war die Situation eine andere, nicht ganz so dramatisch, noch nicht! Er war zwar auch krank, schwerkrank sogar und nur die Dialyse hielt ihn noch am Leben, aber er brauchte keinen Rollstuhl, war überhaupt ansonsten körperlich noch ganz gut in Schuss und finanziell für die nächsten Monate gesichert! Bei ihm war es diese krankhafte, höchst aggressive Blutverfettung, die nur noch wirksam mit einer LDL-Apharese behandelt werden konnte. Das Fett wurde mittels Dialyse einfach herausgefiltert. Die Behandlung als solches war kein Problem, die Finanzierung dagegen schon. Vor ein paar Jahren war das noch nicht so, da übernahm die Krankenkasse noch sämtliche Kosten. Das war vor der neuen Finanzkrise, die ganz anders war als die vorherigen, die waren im Vergleich dazu ein laues Lüftchen. Diesmal war die Krise zu einer viel gewaltigeren, globaleren ausgeufert, Tsunami-haft, alles mit sich reißend. Finanz- und Immobilien-Blasen platzten, Schulden konnten nicht mehr zurückgezahlt werden, die Konjunkturen gingen in den Keller und eine ganze Reihe von Industriestaaten standen kurz vor dem Bankrott. Der Euro wankte mächtig und war eigentlich nicht mehr zu retten. So kam es zu einer ständig neuen Anpassung der Sozialgesetzgebung. Irgendwann war man dann an dem Punkt, dass jeder seine medizinische Versorgung großteils aus Eigenmitteln finanzieren musste. Zuschüsse wurden nach einem Katalog anteilsmäßig gewährt. Eine Dialyse für über 70-jährige war hierin nur noch zu 20 Prozent zuschussfähig. Wer seine Behandlung nicht mehr finanzieren konnte wurde ein Fall für das Amt. Max hatte die ganze Zeit gehofft, dass er nicht in die Lage kommen würde, so wie Willy, sondern dass irgendwann ein paar billige Pillen den Dialyse-Reinigungspart ablösen könnten, Problemlösung durch Fortschritt sozusagen. Aber es kam bisher nichts auf den Markt und die Hoffnung wurde mehr und mehr von Ernüchterung abgelöst. Seine finanziellen Mittel hatten bis heute noch gereicht, aber bald, in ein paar Monaten schon, war Schluss, das war eine einfache Kalkulation und schon lange glasklar, monatlich neu durchgerechnet und schwarz auf weiß belegbar. Natürlich hatte er versucht zu sparen, aber auch die Renten waren gesenkt worden. Es reichte gerade so zum Leben, da war zum Sparen nichts mehr drin. Dabei hatte er es selbst versaut, er hätte nicht in diese Situation kommen müssen. Aber er dachte halt zu lange, er könnte mitspielen, im großen Konzert der Börsenplayer und baute auf die wunderbare Geld-vermehrung. Bis der Suchtdämon vollends die Kontrolle über-nahm und er zockte was das Zeug hielt. Anfangs lief es auch gut, aber nach und nach häuften sich die Verluste. Jedenfalls war irgendwann alles weg und nur die Rente war ihm noch geblieben. Gott sei Dank konnte die nicht ausbezahlt werden, sonst wäre die auch verloren gewesen, gnadenlos verspekuliert. Das war schon ein paar Jahre her, aber es nagte noch schwer an ihm, und jetzt sowieso. Da kam schon öfter eine heftige Depression über ihn und er fühlte sich so elend, dass er ernsthaft an Suizid dachte. Aber es kam nicht dazu, wahrscheinlich hing er doch zu sehr an diesem bisschen Leben das ihm noch blieb. Und wie, nicht nur wahrscheinlich, wenn einer am Leben hing, dann er. Oft genug hatte er mit Erwin darüber gesprochen, was wohl kommen könnte, danach. Jedenfalls nicht Himmel oder Hölle, da war sich sein Freund Erwin sicher.
Ja, seine Zockerei!
Vielleicht sollte er heute das Thema bei Erwin nochmals anschneiden, überlegte Max, als er den beiden verhinderten Besuchern nachsah, wie sie Richtung Hauptstraße aus seinem Blickfeld verschwanden. Oder besser doch nicht, es würde reichen, wenn er von den beiden Amtsträgern berichten würde. Das würde Erwin schon genug in Wallung bringen, das Aktien-thema war zudem oft genug auf dem Tapet gewesen und er würde Erwin damit nur auf die Nerven gehen, zu recht, denn es war absolut ausgelutscht, wenn es ihm auch noch stark nachhing. Er trödelte bis zum Nachmittag vor sich hin. Zu einer Tätigkeit die seine volle Konzentration erforderte war er nicht in der Lage, Niedergeschlagenheit hatte sich auf sein Gemüt gelegt. Ein schleichend sich steigerndes schlechtes Gewissen, alle Vorsätze über Bord und damit die mühsam von ihm aufgebaute Chance der Amtsbesuchsvermeidung so leichtfertig vergeben zu haben nahm ihn gefangen. Der erste Elfer war verschossen. Er hätte doch mehr den inneren Schweinehund bekämpfen und sich gegen seine tief eingebrannte Abneigung auflehnen müssen. Aber die Aussichten auf eine freiwillige Aufgabe seiner Souveränität und die damit verbundenen möglichen Folgen waren für ihn einfach inakzeptabel, weil unmenschlich, wenn ihm auch letztlich wahrscheinlich nur diese eine Überlebens-chance bleiben würde. Es gab, nach seiner analytischen Betrachtung, nur noch wenige Möglichkeiten diesem trüben Schicksal zu entrinnen. Aus eigener Kraft würde er es nur schaffen, wenn er noch irgendwie zu Vermögen kommen oder sich sein Leiden durch eine billige Medikamentenlösung erledigen würde. Beides war äußerst unwahrscheinlich, seine Mittel waren ziemlich ausgereizt und der medizinische Fortschritt ließ bislang auf sich warten. Eine schwache Hoffnung stellte die Familie dar, seine Tochter Luise und sein Enkel Finn ahnten zumindest wie es ihm ging. Allerdings konnte er deren finanzielle Situation nicht ausreichend beurteilen, er weigerte sich auch bisher, sich mit dem Thema zu beschäftigen, er schämte sich noch zu sehr. Würde es dabei bleiben, wonach es im Moment aussah, müsste er in den sauren Apfel beißen und die Konsequenzen ziehen, was er im Ansatz mit der Amtsinitiative bereits getan hatte und letztlich die zwangsläufige Aufgabe seiner Souveränität bedeuten könnte. Das Amt würde einspringen müssen, hoffentlich zahlen und er konnte in seiner Wohnung bleiben, das wäre noch einigermaßen erträglich, zwar demütigend, aber erträglich. Weniger angenehm wäre, wenn das Amt zwar zahlen, er aber aus seiner Wohnung müsste, dann sicher irgendwohin in eine freie Amtseinzimmerwohnung oder in ein Mehrbettzimmerheim, wo auch Asylanten und Obdachlose untergebracht wären. Das wäre dann der kleine Albtraum, der aber wirklich noch sehr klein dastehen würde, wenn dagegen das absolute Horrorszenario eintreffen sollte, nämlich, dass das Amt zwar Zahlungsbereitschaft signalisieren, aber der ärztliche Bericht eine so geringe Lebensperspektive bescheinigen würde, dass ein Ableben mittels Erlösungsspritze angesagt wäre (Scheußlicher Gedanke, der wirklich absolute Albtraum).
So war die Situation, so und nicht anders, beschissen aber nicht hoffnungslos, wenn man den klitzekleinen Ansatz der familiären Unterstützung in Betracht zog und etwas anderes blieb ihm ja derzeit auch gar nicht übrig, wenn er sich nicht gleich selbst für immer davon schleichen wollte.
Zusehends nervöser werdend schaute er nun des öfteren auf die Uhr, die Erwin-Zeit herbei sehnend. Es war aber erst 15:28 Uhr, eindeutig noch zu früh um zu Erwin zu gehen. Der hielt mittags sein Schläfchen und Marta würde ihm dann natürlich sowieso nicht öffnen, also musste er sich noch mindestens zwei Stunden die Zeit vertreiben. Er könnte versuchen ein Buch zu lesen oder eine Platte auflegen, um sich dabei etwas zu entspannen. Die Entscheidung fiel auf Lesen, zur Abwechselung mal einen Kriminalroman. Aber er konnte sich nicht lange konzentrieren, denn das durchdringende Läuten des Telefons brach unver-mittelt in seine Lesewelt. Genervt nahm er das Telefon in's Visier und überlegte kurz. Läuten lassen war jetzt auch Quatsch, raus ist raus, also konnte er auch abnehmen. Wahrscheinlich ist es wieder Luise, wer sonst. Mürrisch stand er stöhnend auf und nahm ab. Sie war es dann auch.
„Vati, du denkst doch noch an Freitag, also Morgen, an den Geburtstag von Bernhard, das hast du doch nicht vergessen oder? Du kommst doch? Du hast fest zugesagt, denk bitte dran! Ein Geschenk habe ich schon gekauft, darum brauchst du dich nicht zu kümmern. Wir haben dir ein Zimmer in der Pension gleich um die Ecke gebucht, die kennst du ja.“
„Aha, dann bringt ihr mich jetzt also schon um die Ecke!!! Guter Witz oder?“ unterbrach Max mit einem amüsierten Lachen ins Telefon ihren Redeschwall.
Keine Antwort von Luise.
„Passt doch, um die Ecke bringen!“ legte Max nach.
„Also Vati, sei bitte nicht so sarkastisch, lass auf jeden Fall deine berühmt/berüchtigten Späße wenn du hier bist. Denke dran, es sind jede Menge Leute da, die dich nicht kennen, blamiere uns also bitte nicht.“
„Was heißt hier blamieren, die Pinkel werden doch Spaß verstehen,“ entgegnete Max amüsiert.
„Und trink morgen bitte nicht zu viel, du weißt, dass du nichts mehr verträgst.“
„Ja mein Kind, das muss ich nachher nochmal testen, ich gehe nämlich gleich zu Erwin, Plaudertermin, weißt du.“
„Du meinst wohl eher Süffeltermin, wie du es nennst. Sicher mit ein paar Gläschen Bordeaux,“ setzte Luise lachend hinzu.
„Kann sein, es kommt drauf an was Erwin aus seinem Keller auf den Tisch zaubert, aber ein guter Roter wird es schon sein, da hast du recht, leider kann ich selbst mir ja einen Bordeaux schon lange nicht mehr leisten.“
„Mach wie du denkst, aber sei bitte vernünftig, denke an Morgen, die Fahrkarte hast du ja?“
Betretenes Schweigen seitens Max, dann vernehmliches Rascheln.
„Vati, die hast du doch???“
„Ja, natürlich, senil bin ich schließlich noch nicht, die liegt hier auf der Kommode, neben der Knarre.“
„Knarre, welche Knarre?“
„Wieder reingefallen, hä, hä.“
„Mein Gott, so langsam mache ich mir wirklich ernsthaft Sorgen um dich, machen wir lieber Schluss bevor du noch so einen grässlichen, sogenannten Witz raus lässt.“
„Na endlich,“ dachte Max.
„Gut Luise, dann bis morgen, um 12:43 Uhr bin ich am Gleis 11.“
„Ja, bis dann,“ beendete Luise mit einem Seufzer das Telefonat.
Max begab sich zur Couch, machte es sich bequem und nahm erneut das Buch zur Hand. Er brauchte ein paar Minuten um sich wieder einzulesen. Nach drei gelesenen Seiten meldete sich wieder das Telefon.
„Ja, was ist denn noch??“ fragte Max unwirsch, als er Luises Stimme erkannte.
„Und denk bloß an deine Blutdruck-Tabletten, am besten du legst die jetzt schon zur Fahrkarte, mach das bitte, versprich mir das!!!“
„Ja, ist gut, ich lege gleich zwei dazu, mehr brauche ich sicher nicht, dann bin ich ja wieder zuhause. Übrigens, könnte mich nicht Finn abholen, der kommt doch auch oder?“
„Ja natürlich kommt der auch, aber ob das mit dem Abholen klappt kann ich dir nicht versprechen, du weißt der muss arbeiten. Jedenfalls holt dich jemand ab, ich werde mit ihm reden, wenn es bei ihm nicht geht, werde ich kommen. Du musst dir deshalb keine Sorgen machen, ich organisiere das. Also bis morgen und nochmal, ob es dir passt oder nicht, trinke nicht soviel, halte dich bitte bei Erwin zurück, du bist krank, das weißt du, ich würde meinen lieben Paps gerne in einem vorzeigbaren Zustand präsentieren,“ kam es von Luise wiederholend in fordernder Tonlage.
„Fang nicht schon wieder damit an, immer die gleiche Leier, das hast du mir vorhin schon gesteckt,“ antwortete Max, jetzt leicht angesäuert. „Du mit deiner Trinkerei, was ist denn schon dabei, wenn wir uns treffen, uns über alte Zeiten austauschen und dabei ein bisschen Wein genießen, davon stirbt man nicht gleich,“ legte Max lauter werdend nach.
„Vati, bitte! Jetzt lass uns nicht streiten, ich bin heute nicht gut drauf.“
„Wieso, was fehlt dir denn, wir streiten doch nicht, bist du krank?“ fragte Max, wobei er sich im Ton zurücknahm.
„Nein, ich habe nur eine leichte Migräne, wie so oft in letzter Zeit und ich habe Angst, dass die sich verschlimmert. Das darf nicht passieren, bloß nicht, er freut sich doch schon so.“
Max hörte deutlich wie bekümmert Luise war.
„Und was willst oder kannst du da machen?“ fragte er besorgt.
„Ich habe gute Medikamente dagegen, das wird schon, kümmere du dich nur darum, dass du fit bist und ich mir nicht auch noch Gedanken um dich machen muss. Beim letzten Besuch warst du vorher auch bei Erwin und dann warst du, gelinde gesagt, hinüber. Ich will doch nur, dass du gesund und ausgeruht zu uns kommst, wenn du schon kommst, was ja leider nicht all zu oft vorkommt,“ kam es beschwichtigend von Luise.
Max spürte, dass er ihr jetzt besser entgegenkam als in eine Grundsatzdebatte einzusteigen, also versprach er ihr Zurück-haltung zu üben und beendete das Gespräch. Er nahm wieder das Buch zur Hand und sah auf die Uhr, jetzt fehlte nur noch eine knappe Stunde. Zu wenig Zeit zum Lesen beschloss er und eigentlich hatte er auch keine Lust mehr dazu, es gingen ihm jetzt zu viele andere, seine Konzentration störende, Gedanken durch den Kopf. Sollte er schnell noch bei Willy vorbeigehen und sich doch alles noch einmal bis ins kleinste Detail erzählen lassen? Aber das würde länger dauern, zu lange, Willy ließ sich nicht mit einer Stunde abspeisen. Er würde sich stattdessen gemütlich auf den Gang zu Erwin vorbereiten und wenn er dann noch Zeit hätte, sich durch das Fernsehen berieseln lassen, Kochsendungen liefen von morgens bis abends, beschloss er. Er ging zum Kleider-schrank. Zu Erwin konnte er nicht in jedem Aufzug kommen, da musste er schon etwas sauberes, frisches anziehen. Und sich rasieren! Unbedingt!
Er legte die Kleider bereit und rasierte sich nass, wie er es ge-wohnt war. Er schnitt sich in letzter Zeit öfter, in einer Häufigkeit die er früher nicht kannte, die eindeutig zunahm, das war nicht zu leugnen. War es Unsicherheit, seine zittrige Hand oder dieser poröser werdende Gesichtsacker, mit immer neuen Hügeln und Furchen, die es zu bewältigen galt? Eine Frage, die bohrend in sein Bewusstsein drang und nach Antwort verlangte, die er aber nicht geben wollte, denn die einzige die ihm bisher eingefallen war gefiel ihm nämlich überhaupt nicht. Die hatte ihm oft genug sein Todesangstdämon beantwortet: Das ist das Alter mein Freund. Und nach oder mit dem Alter, was kommt dann?
Der Tod, dieses grässliche Monster, mit dem er absolut nichts zu tun haben wollte, dem er aber irgendwann unvermeidlich begegnen musste, gewollt oder ungewollt. Er hielt inne und besah sich genau den neuerlichen kleinen Einschnitt in seiner Wange. Unwillkürlich wanderten seine Augen und seine Hand abwärts. Bis an jenen entscheidenden Punkt an dem es anzu-setzen galt. Er hatte es in der Hand, könnte jetzt kurzerhand die Klinge herausnehmen und einen festen Schnitt machen, einen letzten, gezielt an der Kehle angesetzt, nur ein kurzer Ruck, damit würde er endlich seinem Gegenüber im Spiegel den Garaus machen und diese Altersfratze ein letztes Mal gesehen haben. Wie das wohl wäre, wie weit würde das Blut spritzen? Bis auf den Spiegel oder würde es nur aus der Wunde herausquellen und ihm über die Brust laufen, wie ein Lavafluss? Womöglich würde er zusammenbrechen und das Blut aus der Halswunde würde direkt auf den Boden laufen, eine Lache bildend. Er befühlte seine Gesichtshaut, betrachtete sie genau, ging näher ran und tastete sie mit den Fingern ab. Die Haut war welk und faltig, er musste sie mit einer Hand straffen.
„Nur Mut du Feigling,“ rief der Dämon, die grässliche Tat fordernd. Jetzt spürte er erst wie er zitterte. Er schloss die Augen und hielt dagegen. Nein, so würde er sich nicht aus dem Staub machen, so nicht, wenn schon, dann subtiler, mit einem Gift-becher in der Hand, so wie man es aus der Literatur kennt, aber dann gefüllt mit einem guten Roten, der das Gift nicht schmecken lässt und noch ein letztes mal Genuss bereitet. Oder einfach das Angebot vom Amt wahrnehmen und sich die Spritze geben lassen, einschlafen und nicht mehr aufwachen. Dann wäre auch gleich von Amts wegen alles geregelt und man regelrecht ordnungsgemäß entsorgt. Aber auch das würde er nicht können. Er konnte einfach nicht bewusst sterben, ob von eigener oder fremder Hand. Nicht wie Karl, der hatte Mut, der hatte den Strick gewählt, und wie!! Fachmännisch, da hatte alles gepasst. Aber Max, Max wusste nicht mal wie man einen Knoten macht, er scheiterte ja schon an einem simplen Krawattenknoten, lachhaft. Er musste schon tot umfallen, es hinderte ihn einfach die höllische Angst vor dem Sterben, immer schon gehabt und nie überwunden und sein bisheriges, relativ langes Leben hatte offenbar noch nicht gereicht um ihn davon zu befreien, um selbst aktiv zu werden. Der Dämon Angst war einfach da, mehr oder weniger als Dauerzustand und hatte ihn im Griff, bewusst oder unbewusst. „Ich gehe gerne, ich habe genug gelebt, 78 Jahre sind genug.“ Nein, eben nicht, er hatte nicht genug gelebt, er konnte gar nicht genug leben!! Alles andere war Käse, dummes Geschwätz. „Mein Gott, was für eine verdammte Scheiße!!“
Da stand er nun wieder, wie so oft, vor dem Spiegel und quälte sich mit den bekannten, immer wiederkehrenden Eingebungen seiner Dämonen. Und wie so oft, war ihm heftig der Schweiß aus-gebrochen, stand ihm auf der Stirn, tropfte von der Nase und von seinem Oberkörper.
„Mist, jetzt muss ich auch noch duschen,“ ärgerte er sich und setzte sich auf den Rand der Badewanne. Langsam und mit Bedacht rieb er sich den gröbsten Schweiß ab. Als er wieder mehr Ruhe in sich aufkommen fühlte, stieg er in die Wanne und duschte sich. Lieber hätte er jetzt ein entspannendes Bad genommen, aber dafür war die Zeit zu knapp. „Schon lustig,“ dachte er, „vorher zu viel Zeit und jetzt zu wenig, irre.“ Danach zog er sich an und musterte sich im großen Spiegel. So gefiel er sich, jetzt konnte er zufrieden aus dem Haus gehen, aber nicht ohne vorher noch ein Mitbringfläschchen aus dem Keller zu holen. Es sollte schließlich so sein wie bei seinen bisherigen Besuchen. Er brachte den billigen Fusel, er konnte sich eben sonst nichts leisten und Erwin gab ihn seiner Haushälterin Marta. Die nahm ihn dann zum Kochen, laut Erwin. Es war nur eine Geste seitens Max, ein bescheidener Willkommenswein, Erwin trank nämlich nur Bordeaux, oder fast nur, und zwar vom Besten. Erwin ermunterte ihn zwar öfter zu kommen, außer ihrem vereinbarten zweiwöchentlichen Donnerstag, aber Max war es peinlich. Er wollte nicht zu viel auf Erwins Kosten leben, ge-schweige denn, auch nur den Eindruck erwecken. Das kam ihm zu schmarotzerhaft vor und er fand den Rhythmus so auch ganz in Ordnung, zu oft konnte schädlich sein und abnutzend wirken.
Es wurde Zeit und er ging aus dem Haus.
Als er am Briefkasten vorbeikam, sah er den großen braunen Umschlag. Er nahm ihn und ging damit ins Haus zurück, öffnete, riss den Umschlag förmlich auf und fand darin ein Anschreiben mit Vorladung und Fragebogen. Nun musste er doch zu Ihnen, der Heimvorteil war endgültig dahin.
Jetzt aber rasch zu Erwin, sonst komme ich noch zu spät, stellte er mit einem Blick auf die Küchenuhr fest und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg.