Flieg Helmut, flieg
oder
Liebesmord
Ein Sex- and Crime-Roman
Ein Mord kann ganz planvoll vollzogen werden,
er kann sich aber auch durch einen dummen Zufall
oder ein plötzlich auftretendes, unvorhergesehenes Ereignis,
als unvermeidbare Notwendigkeit erweisen.
Und manchmal soll es sogar vorkommen, dass beides zusammenfällt.
Sybille schaute ein letztes Mal zurück.
Ein kurzes Winken noch zum Abschied, dann drehte sie sich um und eilte schnellen Schrittes Richtung Sicherheitskontrolle. Richard, Helmuts Vater hatte sie zum Flughafen gebracht, zusammen mit Ellen, Helmuts Mutter. Bedauernswerte Leute, aber starke Persönlichkeiten, besonders Richard, das bewunderte Sybille schon immer. Und vor allem wie sie jetzt, selbst so hart getroffen, sich um sie kümmerten, das war schon aller Achtung wert. Sie gaben mit ihrer ganzen Kraft ihr letztes Quäntchen Mitgefühl an sie ab, das spürte sie. Dabei brauchte sie das gar nicht, eher umgekehrt, sie war richtig gut drauf und hätte ihnen jede Menge Lebensfreude übermitteln können. Nur, das konnte und durfte sie nicht, denn das wäre unpassend und vor allem Verdacht erregend gewesen und hätte damit womöglich das ganze, so mühsam errichtete, Kartenhaus zum Einsturz gebracht, also beherrschte sie sich. Außerdem würde sie das 'sich gehen lassen' bald nachholen können, schon in wenigen Stunden. Deshalb war Sybille auch ganz hippelig, sie konnte es kaum erwarten endlich in den Flieger zu steigen, um weit ab von Hamburg auf Mallorca ihren ersten Urlaub seit langem genießen zu können und das vor allem ohne nervtötenden Helmut, denn der hatte sich ja, zwar nicht ganz freiwillig, es hatte dazu einer gewissen Unterstützung bedurft, von dieser Erde verabschiedet. Und deshalb, dank seines Ablebens, würde sich dieser Urlaub jetzt auch ganz anders gestalten, nicht so wie früher, als sie mit Billigfliegern reisen und irgend ein armseliges Hotelzimmer beziehen musste, jetzt konnte sie im Luxus schwelgen, es sich in der Familien eigenen Finca gemütlich machen und das wann immer und so oft sie wollte, das hatte Richard noch ausdrücklich bei der Schlüsselübergabe betont. Die Finca könne sie, so wie er sich geäußert hatte, jederzeit nutzen, ob als Rückzugsmöglichkeit, wenn ihr alles zu viel werden würde oder, so wie jetzt, um den Verlust ihres Ehemannes, seines Sohnes, besser verkraften zu können. Sie nahm diese Geste dankend an und verbuchte sie als Lohn ihrer überzeugenden Schauspielkunst und der so meisterlich gelungenen Ausführung ihres Mordplans, denn die Umstände, die sie zur Witwe und damit Erbin gemacht hatten, waren wirklich nicht die erfreulichsten. Aber so war es nun einmal, sie hatte das auch nicht so gewollt, zumindest nicht am Anfang, als sie Helmut kennengelernt hatte. Da wäre auch so ein Angebot von Richard undenkbar gewesen, da war er noch richtig garstig zu ihr. Er ließ sie damals sehr genau spüren, dass es ihm nicht gelegen kam, dass sein Sohn eine Frau aus nicht gerade passenden Verhältnissen ehelichen wollte. Und das hatte er auch Helmut in aller Deutlichkeit vermittelt. Als erste Klärungsgespräche nicht fruchteten, Helmut nicht in seinem Sinne reagierte und diese unstandesgemäße Person, trotz massiver Einwände, nicht in die Wüste schickte, fuhr Richard schweres Geschütz auf. Es war ihr letztes
Vater-Sohn-Vorehegefecht. Richard konfrontierte Helmut mit dem Ergebnis der von ihm in Auftrag gegebenen Nachforschungen bezüglich seiner zukünftigen, hoffentlich, Nichtehefrau. Helmut las das Anklagepamphlet, wie er es nannte, nur oberflächlich durch und ging zum Gegenangriff über. Es war eigentlich eine klassische Vater-Sohn-Auseinandersetzung, wie es sicher in vielen Familien alltäglich war, der Alte wollte unbedingt Recht haben und der Junge aus Prinzip nicht Recht geben. So war es nicht verwunderlich, dass Helmut zurückfeuerte und dem Alten vorwarf, dass in ihrer Familie alles möglich sei, bloß keine Liebesheirat, dass es ihm, dem Alten, nur darauf ankam ihn mit irgendeiner betuchten Hanseatenjungfer zu verkuppeln, um ja bloß auf der gleichen gesellschaftlichen Ebene zu bleiben. Warnendes Beispiel sei für ihn seine Schwester Patrizia, die er ja schon so erfolgreich an diesen trögen Lennart verschachert habe, nur weil der Kohle und ein 'von' im Namen hatte. Aber so etwas würde er mit sich nicht machen lassen, er liebe nun einmal diese Frau und alles was in diesem Papier stehen würde wäre nicht maßgebend, die Vergangenheit interessiere ihn überhaupt nicht, er würde in die Zukunft schauen und wäre überzeugt, wenn sich Richard wenigstens einmal von seinem hohen Ross herunter begeben und Sybille aufgeschlossen gegenüber treten würde, wäre seine Meinung eine ganz Andere.
Aber was hier steht ist doch nicht von der Hand zu weisen mein Junge, das muss man doch in so eine wichtige Entscheidung mit einbeziehen, da kann man doch nicht einfach so drüber hinweggehen, unternahm Richard einen weiteren, verzweifelten Versuch Helmut zu überzeugen.
Ich habe es gelesen und was steht drin? Jedenfalls nichts Welt bewegendes! Dass Sybille keine Klosterschülerin war wusste ich vorher schon, aber was heißt das schon, jeder hat wohl in seiner Jugend einmal über die Stränge ge-schlagen, außer dir natürlich.
Der Zusatz saß, Richard empfand ihn schon ziemlich frech und schaukelte, so stark getroffen, die Auseinandersetzung stimmlich weiter nach oben.
Und der letzte Absatz, hast du wenigstens den genau gelesen oder vielleicht lieber überlesen, das liest sich doch wie eine Anleitung zu 'Wie angelt man sich einen Millionär'!
Man kann auch Gespenster sehen, Sybille ist nicht gerade reich, das stimmt schon, aber darauf kannst auch nur du abheben, weil du sie nämlich nicht kennst. Sybille jeden-falls hat noch nie auch nur den Anschein gemacht viel Wert auf materielle Dinge zu legen, ihr ganzes Wesen, ihre ganze Art spricht dagegen, sie ist so auf Harmonie fixiert, auf eine glückliche Beziehung, mit allem drum und dran. Und deshalb, jetzt zum letzten Mal, es bleibt dabei, wir werden heiraten, wenn es sein muss, auch gegen deinen Willen.
Dann heirate sie doch, du Dummkopf, renne in dein Verderben, du bist ja so verblendet, dir ist einfach nicht zu helfen, mir kann dieses Weibsbild jedenfalls nichts vormachen, die will nur Geld und Status, hier schau doch nur einmal richtig hin, das besagt doch alles, der ganze Lebenswandel, jede Menge Männerbekanntschaften, dann kurz verheiratet mit einem Hallodri, zuletzt in einer Wohngemeinschaft mit einer Frau und dann auch noch verschuldet bis über beide Ohren, willst du das wirklich alles einfach so ignorieren?
Du musst nicht immer alles wiederholen, aber ich merke schon, es ist sinnlos, du siehst nur, was du sehen willst, ich bleibe dabei, mein Entschluss steht fest.
Und meiner auch, meinen Segen für diese Unglücksheirat bekommst du jedenfalls nicht.
Na, dann ist das Gespräch ja wohl beendet.
Helmut ging, nicht ohne die Tür mit einem Krachen hinter sich ins Schloss fallen zu lassen.
Da Richard nach diesem Gespräch klar war, dass er die Ehe nicht verhindern konnte, entschloss er sich wenigstens maximale Schadensbegrenzung anzustreben. Und das erreichte er, indem er Sybille zwang als Zugeständnis für sein Einverständnis, eine richtig unangenehme Kröte zu schlucken, einen knallharten Ehevertrag zu unterschreiben, der ihr im Falle einer Scheidung nur eine auf fünf Jahre befristete Apanage zugestand und das auch nur, wenn ihr nicht ein ehewidriges Verhalten nachzuweisen war, also die Schuld-frage eindeutig bei Helmut lag oder der Scheidungsantrag von ihm ausging.
Wenn man so will, war also auch Richard mitschuldig an dem was dann geschah und bis heute nachwirkte, an dieser schrecklichen Tragödie mit den zwei Todesopfern, die heute noch leben könnten und wer weiß, was noch kommen würde.
Zwar hatte sie während und vor allem gegen Ende ihrer Ehe mit Helmut auch seine Eltern mehr und mehr für sich ein-genommen, sie umgarnt, getäuscht und elegant hinters Licht geführt, aber da war es schon zu spät, der Zeitdruck zu groß und Helmut schon abgeschrieben. Wie gut sie gearbeitet hatte zeigte, dass Richard jetzt seinen Sohn, als den alleinigen Verursacher ihres Ehedilemmas und noch viel wichtiger, als Schuldigen seines bedauerlichen, so frühen, Abgangs betrachtete. Deshalb und wohl auch wegen einem Anflug schlechten Gewissens, war es nun so, dass Richard sich so liebevoll um sie, die arme, betrogene Witwe kümmerte, ihr den Flug und den Aufenthalt fürsorglich organisiert, sie selbstverständlich zum Flughafen gebracht und das Einchecken besorgt hatte, fast schon väterlich zu ihr war. Er tat ihr jetzt sogar ein bisschen leid, weil er zwar die härteste Nuss war, die es zu knacken galt, aber letztlich auch am meisten auf ihre gute Inszenierung hereingefallen war. Für Ellen und Patrizia hingegen hatte sie eindeutig weniger Mitgefühl. Wobei Patrizia schon arg mitgenommen wirkte als sie bei der Beisetzung ihres Bruders die obligatorische Schaufel Erde nahm und sie, mit zittern-den Fingern, über dem Sarg verteilte. Wie tief getroffen sie da Abschied nahm hatte Sybille zwar beeindruckt, ihr Respekt abverlangt, mehr aber auch nicht. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, jetzt, da die Bilder noch einmal unvermittelt hoch kamen. Dabei waren es doch schon fast zwei Wochen her, als sie am Grab stand und zu dem Sarg, in dem er nun lag, mit bleichem versteinerten Gesicht herab-geblickt hatte, mit ihren künstlich verheulten, Zwiebel-geröteten Augen und ihm dann bewusst für alle, gut sichtbar, mit geschlossenen Augen und zusammengepressten Lippen zunickte, in die Tiefe, in der er hinab gelassen worden war, in das Loch, das nun für immer sein zu Hause sein würde. Als sie dann, kurz bevor ihn die Erde bedeckte, noch diese lästige Segnungspflicht absolvierte, sie mit schwerer Hand den Stab in Kreuzform über das Blumenbukett führte und das Weihwasser niederregnen ließ, war es ihr, als ob die Tropfen, so laut wie herabfallende Eicheln, auf den Sargdeckel aufklatschten. Die Stille der Aufmerksamkeit, die um sie herum herrschte und ihre unbedingte, volle Konzentration erforderte, um jetzt ja nichts falsch zu machen, verdichteten in ihrem Gehirn jeden Laut zu einem Dröhnen, denn in diesem Moment, das wusste sie, musste sie absolut glaubwürdig sein, tief traurig wirken, weil es dazu gehörte, von ihr als junger Witwe erwartet wurde. Und obwohl sie sich vorgenommen hatte bei dieser wichtigen Szene nach innen absolut cool zu bleiben, hatte sie, zugegebenermaßen, trotz aller aufgebauten Kontrollmechanismen, doch auch ein starkes Abschiedsgefühl gepackt, war es schon so, dass sie trauerte, irgendwie. Zwar nicht ganz so, wie es für einen geliebten, frisch verstorbenen Ehemann passend wäre, denn dafür waren die Wutgefühle immer noch zu dominant, eher so, wie wenn ihr geliebter Teddy ein Ohr verloren hätte, aber immerhin Trauer, eine starke Gefühlsregung und dazu die Passende hatte sie übermannt und letztlich sogar so sehr, dass ihre Simulationstränen von echten, ehrlichen, hinweggeschwemmt wurden. Das half ihr ungemein noch glaubwürdiger zu wirken. Da gelang es ihr sogar fast noch Patrizia, Helmuts Schwesterherz, zu toppen, die schluchzte und weinte was das Zeug hielt. Dabei glaubte die doch so sehr an die Wiedergeburt, ging ganz auf, in ihrem christlichen Glauben und sah Helmuts Ableben eh nur als kurzfristige Trennung an. Aber selbst ihr vergeistigter Ehemann Lennart konnte sie nicht auf ein niedrigeres Trauerlevel herunterfahren. Richard und Ellen dagegen schienen wesentlich gefasster zu sein oder hatten sich mehr im Griff, schwer zu beurteilen. Vielleicht war es auch die Befürchtung, dass Helmut irgendwann eine große Dummheit begehen würde, eine Ahnung die sie schon etwas vorbereitet, die lange vorausgeeilt und daher bereits die gröbste Schockwirkung genommen hatte. Sicher auch eine Frucht der von Sybille so geschickten Helmutverteufelung. Sie hatte ihnen frühzeitig durch Lügen und Intrigen ein für ihre Zwecke passendes Bild vermittelt, ihren Sohn in ein entsprechendes Licht, ein für Sybille angenehmes Erblicht, gesetzt. Das war ihr überaus gut gelungen. Daher war Sybilles Gefühlslage auch ganz anders, absolut nicht vergleichbar, denn bei ihr herrschte, im Allgemeinen, bis auf die Beisetzung, Erleichterung und Zufriedenheit vor, wie man sich eben so fühlt, wenn ein perfekt geplanter und umgesetzter Mord mit einer großzügigen Wohlstandssicherung ziemlich problemlos über die Bühne gegangen ist. Ihr Plan war voll aufgegangen, wenn auch der Verlauf nicht so ganz ihren Wünschen und Vorgaben entsprochen hatte. Es gab zwar nichts zu meckern, Helmut war tot, sie und Hanne Alibigesichert, aber so wie es sich in letzter Zeit entwickelt hatte gefiel ihr das überhaupt nicht, da musste noch nach-gearbeitet werden. Wobei es im Falle des zweiten, für sie völlig überraschend dazu gekommenen und daher unerwarteten, Toten weniger Handlungs- als Klärungsbedarf gab. Sie war immens gespannt was ihr Hanne dazu erzählen würde und hoffte inständig, dass sie keinen Fehler, wie auch immer, begangen hatte. Bis jetzt sah es zwar eher nach einer gekonnten Zugabe aus, aber ohne die Details zu kennen, die sie sicher beruhigen würden, hatte ihr dieser ominöse Zusatzmord stark zugesetzt, ihr arge Kopf- und Bauch-schmerzen bereitet. Aber in Bälde würde sie mehr wissen, jetzt kam es vor allem darauf an gut zu Schauspielern, sich gekonnt zu verstellen und dabei immer auf die Balance zu achten. Und das noch über längere Zeit, wie lange genau musste man sehen, aber sicher noch ein paar Monate. Für sie eine halbe Ewigkeit, in der ihr noch viel abverlangt werden würde. Dabei waren die zurückliegenden Wochen schon sehr anstrengend, sehr kräftezehrend, gewesen. Und das vor allem, da es da auch noch diese unerwarteten, zusätzlichen Wölkchen gab, die aus mehreren Richtungen aufgezogen waren und die sie belasteten, indem sie verdunkelnd ihre Schatten über den so grandiosen Erfolg gelegt hatten, als ob die Morde nicht schon genug Seelenpein gewesen wären. Aber die Wolken waren nun einmal da und zwangen sie, sich damit auseinanderzusetzen und das sicher noch eine ganze Weile, weil deren Vertreibung sich nicht so einfach bewerkstelligen lassen würde. Vielleicht würde es sogar nötig sein nochmals das letzte Mittel anzuwenden, zwar sah es noch nicht danach aus, aber es war auch nicht auszuschließen. Die Morde, die damit verbundenen, mysteriösen Umstände und diese noch ungelösten, drängenden Zusatzprobleme zusammen mit den Vorfällen der letzten Wochen wie Beisetzung, Familientreffen etc. zehrten ungemein an ihren Kräften und das sah man ihr auch an, passte andererseits aber auch wieder ganz gut zu einem idealen Witwenbild. Daher kam ihr dieser Urlaub auf Mallorca, den sie jetzt antrat, diese Auszeit, gerade recht. Ellen war, am Tage der Beisetzung, auf sie zu gekommen und hatte ihr den Urlaub nahe gelegt. Welch eine Fügung des Schicksals, hatte sie doch schon länger an einer passenden Ausrede für eine solche Fluchtmöglichkeit gebastelt. Sie sähe so mitgenommen aus und der Seelenschmerz wollte verarbeitet werden, das würde ihr sicher noch viel Kraft abverlangen.
Arme, naive Ellen, wenn du wüsstest, dachte da Sybille und grinste in sich hinein, das Täuschen, das Entsagen und vieles Andere mehr, das hatte sie viel Energie gekostet, aber doch nicht das Ableben von Helmut, das war wirklich das Geringste. Und der Gipfel war dann noch, dass Ellen von selbst vorschlug doch eine liebe Freundin mitzunehmen, dann hätte sie etwas Ablenkung. Zerstreuung würde ihr sicher gut tun und dazu wäre ein Ortswechsel mit einem lieben, verständnisvollen Menschen genau das Richtige. Sie brauchte dann nur noch die infrage kommenden Freundinnen mit ihr zum Schein durchzugehen und schon, wie der Zufall so will, kam nur noch Hanne infrage. Carla hatte eine Boutique, daher leider keine Zeit und Stefanie musste wegen angeblicher Urlaubssperre ablehnen. Das passte wunderbar, damit war die Begleitung festgelegt. Sybille hätte andererseits schon dafür gesorgt, dass nur noch Hanne übrig geblieben wäre, denn auch sie sollte belohnt werden, durch sie und vor allem mit ihr. Schließlich hatten sie jetzt beide eine lange, schwere Zeit hinter sich, eine Zeit, in der es anstrengend genug gewesen war, sich so lange gedulden zu müssen, bis sie endlich ihren Traum leben konnten, gemeinsam, mit Kind und reich, richtig schön reich. Zwar leider vorerst noch ohne Kind, dieser Mosaikstein fehlte nach wie vor, aber das Problem würden sie auch noch auf irgendeine Art lösen. Das hatte jetzt erst einmal Zeit, jetzt galt es geduldig zu sein, Gras über das Geschehen wachsen zu lassen und den so lange ersehnten materiellen Wohlstand zu genießen. Natürlich war auch Hanne zur Beisetzung gekommen, sie zählte zu den von ihr geladenen Trauergästen, so wie ihre anderen Freundinnen Carla und Stefanie. Da hatte sie den letzten direkten Kontakt zu Hanne, als sie ihr am Grab die Hand gab und sie umarmte, wie alle anderen. Für die Anwesenden Eine von vielen, für sie die Frau ihres Herzens. Als sie Hanne so fest umschlang und sie ihr die Hand drückte, fragte sie sich schon, ob es für die Umstehenden wirklich nicht möglich war zu erkennen, dass es nicht nur Freundschaft, sondern Liebe und Komplizenschaft war, die sie verband. Da überkam sie spontan eine Angst, dass ein Verdachtsfunke sprühen und alle in Brand setzen könnte. Verunsichert versuchte sie an den Gesichtern eine Reaktion, eine Erleuchtung, so wie der Pfarrer ständig von Erleuchtung gesprochen hatte, zu erkennen. Aber sie konnte erleichtert den Kopf senken und sich schnäuzen. Keine sichtbare Reaktion. Übertriebene Angst war wohl über sie gekommen, wahrscheinlich hatte ihr dieser aus ihrer Sicht heikelste Moment, wo alle Augen auf sie gerichtet waren, als sie vorher alleine am geöffneten Grab stand und die so überaus tief traurige Witwe spielen musste, diese Horrorvorstellung, jemand könnte etwas merken, eingejagt und sie bis zu Hannes Umarmung verfolgt. Vielleicht ein letzter Giftpfeil von Helmut, um sie
aufzuschrecken, sie zu verunsichern oder um einen letzten Hinweis an die Umstehenden zu senden.
Seht doch, schaut sie sich genau an, da steht sie meine Mörderin, verhaftet sie, führt sie ihrer gerechten Strafe zu, ihr müsst das doch erkennen!
Aber nichts geschah, Sybille beruhigte sich, alles ging seinen normalen Gang. Man kam zum Ende der Beisetzung, der Pfarrer erteilte seinen Segen und verabschiedete sich wenig später. In seiner Grabrede hatte er nur kurz erwähnt, dass es sehr unglückliche Umstände waren, die Helmut diesen frühen Weg zu Gott beschreiten ließen. Richard hatte darum gebeten nicht näher auf die Todesumstände einzugehen und es mit diesem einen Hinweis bewenden zu lassen. Überhaupt waren die Worte Mord oder Suizid auch sonst nicht gefallen, sie hatte zumindest nichts Derartiges gehört, vielleicht hatte man hinterrücks darüber getuschelt, sicher sogar, aber in den Gesprächen war immer nur von dem tragischen Unfall die Rede. So stand es auch in fast allen Tageszeitungen, außer ein paar windige Schmutzblätter, so hatte es Richard formuliert, suchten und wollten eine Mordstory am köcheln halten. Auch Anspielungen auf die Drogenszene waren da zu lesen gewesen. Aber nach der ersten Aufruhr und wahrscheinlich nach Richards Intervention über sein überaus ausgeprägtes Beziehungsnetz war nichts mehr erschienen. Ja Richards Kontakte, die waren natürlich auch als Baustein in Sybilles Plan enthalten, Teil des Projektes, denn Richard war Mitglied einer der angesehensten Familien des nord-deutschen Hanseclans, des Hamburger Geldadels, wirtschaft-lich und politisch vernetzt bis in die höchsten Ämter. Daher war es sicher auch Richards Arm der die Berliner Staatsanwaltschaft, man kann es dezent ausdrücken, bei ihren Ermittlungen unterstützte. Es lag ihm viel daran die Ehre und das Bild seines Sohnes im rechten Licht zu wissen, denn das Leben, das Helmut nun einmal führte, war allen-falls im Verborgenen akzeptabel. Drogen und Alkoholexzesse waren zwar auch in Hamburg und gerade in dieser feinen Hanseatengesellschaft möglich, aber nur inoffiziell, nur im Geheimen. Wer weiß was sogar die prüde, ach so religiöse, Patrizia heimlich mit ihrem Lennart trieb. Vielleicht machte sie auf Domina und las ihrem Lennarti dabei aus dem Gebetsbuch vor. Aber so wie sie sich gab, wie sie auf Helmuts Untergrundleben reagiert hatte, hysterisch herumschreiend und außer sich, war es nicht anzunehmen. Oder sogar doch, denn gerade die hatten es doch meistens faustdick hinter den Ohren.
Egal, Sybille hatte es überstanden und das war die Haupt-sache, hatte alle Beileidsbekundungen am Grab souverän über sich ergehen lassen und selten aufgeblickt, konnte sich als Witwe gut hinter ihrem Schleier und vorgehaltenen Taschen-tuch verbergen. Außer in einem Fall, bei einer Person noch, hatte sie Mühe, war es so ähnlich wie bei Hanne, fiel es ihr sehr schwer ihre Gefühlswelt in Zaum zu halten. Dieses Mal betraf es ein männliches Wesen, nämlich Alex, ein Arbeitskollege von Helmut, der kondolierte und dessen unmittelbare körperliche Nähe sie doch, trotz aller vorsorglichen Panzerungen, sehr berührte. Auch da spielten ihre Gefühle verrückt, erzeugte sein Händedruck eine starke Aufforderung weitere Körperkontakte folgen zu lassen, denn diese Hände kannte sie nur zu gut und ließen in ihrem Kopf einen Film ablaufen, der so gar nicht zu einer Beisetzung passte und Teil ihres Sorgenpakets waren. Sie sah ihm bewusst nicht in die Augen, konnte aber fühlen wie auch er sich mühen musste Haltung zu bewahren. Aber auch das stand sie bravourös durch und war jetzt gewillt sich erst einmal in ihrem Erfolg, gemeinsam mit Hanne, zu sonnen. Alles Andere hatte jetzt keine Priorität und war zweitrangig, musste warten, denn das Hauptproblem war gelöst, Helmut tot und sie reich, wer oder was sollte ihnen diesen Triumph jetzt noch streitig machen können? Nichts und niemand, da war sie sich sicher!
Wobei, man konnte nie wissen aus welchem Loch noch so ein Fehlerwurm kriechen konnte! Daher war Vorsicht, gepaart mit Misstrauen, weiterhin oberstes Gebot. Das war Sybilles Maxime und die praktizierte sie äußerst gewissenhaft.